In der dieswöchigen Sidra leitet die Tora die Offenbarung am Sinai mit dem Verse ein (Exodus 20, 1): "Und G-tt sprach (hebr.: 'Waj’dabber') all diese Worte, wie folgt (d.h. 'zu sagen'; hebr. "Lemor"). Die Kommentare legen hierzu dieses fest: Wo immer es in einem Verse heißt "Waj’dabber ... Lemor", bedeutet es, dass die betreffende Botschaft, die Moses erhalten hatte, den Israeliten, die sie nicht gehört hatten, übermittelt werden sollte. Dieses Prinzip konnte aber am Berge Sinai keine Anwendung finden, denn alle hörten G-ttes Worte. Trotzdem bedient sich die Tora des Ausdruckes "zu sagen ('Lemor')". Weshalb hier auch?

Die Antwort kann nicht sein, dass dies auf spätere Generationen hinweisen sollte (denen all dies "zu sagen" wäre), denn der Midrasch (Schmot Rabba 28, 6) belehrt uns, dass die Seelen aller später geborenen Juden am Sinai zugegen waren.

Der Meseritscher Maggid (Schüler und Nachfolger des Baal Schem Tov) hat diese Schwierigkeit auf folgende Weise gelöst: Die oberste Idee der Offenbarung, wie er es erläutert, bestand darin, den Menschen einzugeben, dass der Begriff von "Waj'dabber" sich auf den Begriff von "Lemor" auswirkt. Das heißt hier: Die Zehn Gebote der Tora (hebr.: "Asseret Hadibrot") sollten sich auf die Zehn Prinzipien ("Zehn Aussprüche", hebr.: Assara Ma’amarot") auswirken, mit denen die Welt geschaffen worden war (s. "Sprüche der Väter, 5, 1). Nach der Erklärung des Sohar (III, 11, 2) sind die Zehn Aussprüche bei der Schöpfung parallel und in der Tat kongruent – also gleichwertig – mit den Zehn Worten am Sinai.

Demgemäß erscheinen in unserem einleitenden Vers ganz folgerichtig beide Ausdrücke, nämlich "Waj'dabber ... Lemor". Er zieht gleichsam die Gebote hinein in die Prinzipien der Schöpfung der Welt. Auf praktischer Ebene bedeutet dies, dass das Licht der Tora die weltlichen Angelegenheiten der ganzen Schöpfung beeinflussen und erhellen muss.

Viele Leute haben falsche Vorstellungen über das Leben und seinen Zweck. Sie meinen, die Tora und die Welt seien zwei verschiedene und voneinander getrennte Dinge. In der Praxis bedeutet dies für sie persönlich, dass sie sich zwar in der "Tora-Umgebung" wie "Tora-Juden" führen, sobald es sich aber um das geschäftliche Leben, um Beruf, Handel, Wirtschaft und Schule handelt, dann muss man sich – so meinen sie – "weltlicht" führen. – Dies jedoch ist eine Fehlansicht. Vielmehr wird uns hier, gleich bei der Offenbarung, angezeigt und vorgezeichnet, dass man einen solchen Unterschied nicht machen darf; vielmehr müssen alle Aspekte des Lebens fest auf der Grundlage von Tora stehen.

Dass dies sich auf die in der Tora enthaltenen Verbote bezieht, versteht sich von selbst. Die Regel geht aber noch weiter, sie umfasst alles; und so sollen auch Dinge, die durchaus gestattet sind, nicht nach allgemein menschlichen Normen zur Ausführung kommen, sondern nach den Normen der Tora.

G-tt steht über den Beschränkungen von Zeit und Raum. Er ist absolut, Quelle aller Stärke und allen Lebens, keiner Form unterworfen und kann nicht beschrieben werden. Das erste Gebot ist: "Ich bin der Ewige, dein G-tt." Wo ist Er, was dich betrifft, im Verlauf jeder deiner Tage? Das ist die Frage, die nur analog dessen beantwortet werden kann, was wir soeben über den Geist gesagt haben, der das ganze tägliche Leben, in allen Einzelheiten, regieren soll.

Man kann die tiefste Wahrheit von "Ich bin der Ewige, dein G-tt" in seinem Inneren beim Beten, beim Lernen oder zu anderen feierlichen Anlässen erleben und erfahren; es genügt aber noch nicht. Mehr wird von uns erwartet, denn Aufgabe und Zweck ist es, dass man den ganzen Tag hindurch, bei allem, was man tut, sich der G-ttlichen Allgegenwart ebenso bewusst bleibt wie beim Gebet oder beim Tora-Lernen: Der ganze Alltag ist geweiht.