Neulich fragte ich einen jungen Mann, ob er eine bestimmte Mizwa befolgen wolle. „Das ist nicht mein Ding“, antwortete er zu meiner Überraschung. Ist es etwa vorherbestimmt, was „unser Ding“ ist, oder können wir mehr erreichen?

Wäre das Leben ein Schachbrett, wären wir dann Bauern, die nur in eine Richtung gehen können? Oder wären wir Damen, die ihre Richtung selbst wählen können?

Der Engel

Engel haben keine Richtung. G-tt hat ihren Charakter bereits geformt. Darum müssen sie so bleiben, wie sie sind.

Manche Engel dienen G-tt liebevoll. Andere dienen ihm mit Freude. Liebende Engel können sich nicht freuen, und freudige Engel können nicht lieben, es sei denn, sie „borgen“ diese Gefühle voneinander.

Ein liebender Engel, der mit Freude dienen will, muss die Freude von einem Engel borgen, der sich freuen kann. Letzterer muss Liebe von einem liebenden Engel borgen, damit er liebevoll beten kann. Das Gleiche gilt für jede andere Eigenschaft der Engel.

Darum bezeichnet der Prophet die Engel als unveränderlich.1 Ein Engel kann seinen Posten nicht verlassen und einen neuen einnehmen, es sei denn, ein äußerer Einfluss zwingt ihn dazu. Er ist zu starker Hingabe und spirituellem Eifer fähig; aber er kann nicht aus seiner Haut heraus. Er kann nichts tun, was der Natur widerspricht, die G-tt ihm gegeben hat.2

Die bewegliche Seele

Sind wir anders? Sind wir auf die Mizwot beschränkt, die für uns „Priorität“ haben? König Schlomo nannte das jüdische Volk G-ttes Braut. Wenn G-tt der König ist, dann sind wir seine Königin. Auf dem Schachbrett bedeutet das, dass die jüdische Seele in alle Richtungen wandern kann.

Letztlich sind wir alle einzigartig. Jeder von uns hat seine Eigenarten und seine Art, G-tt zu dienen. Manche Juden sind meditativ veranlagt, andere nachdenklich. Einige sind fröhlich, andere liebevoll. Manche studieren gerne, andere handeln lieber. Wir alle haben unseren eigenen Weg, aber in Einem unterscheiden wir uns von den Engeln: diese sind an ihren Charakter gebunden, wir nicht.

Der Prophet nennt die Seele beweglich. Sie kann sich auch seitwärts bewegen. Obwohl jeder von uns einen bevorzugten Startplatz hat – eine Mizwa, die unserer Natur am meisten entspricht –, sind wir imstande, auch gegen unsere Natur zu handeln. Wir können auch die Mizwot befolgen, die „nicht unser Ding“ sind.

Wir können sogar alle Mizwot einhalten, selbst wenn wir eine von ihnen bevorzugen. Wir können verschiedene Wege wählen, um G-tt zu dienen, auch solche, die unserer Persönlichkeit eher fremd sind.

Jaakows Segen

Der aufmerksame Leser wird fragen: „Vielleicht können Seelen ihren gewohnten Pfad verlassen – aber tut ihnen das gut? Sollen wir nicht lieber jene Mizwot eifrig befolgen, die uns Spaß machen, anstatt andere, die wir nicht mögen, zögernd auszuführen?“

Um diese Frage zu beantworten, wollen wir uns die zwölf Söhne Jaakows ansehen, die Wurzel unseres Volkes. Diese zwölf Männer waren unsere Urväter, und jeder drückte seiner Familie und seinen Nachkommen seinen einzigartigen Charakter als Stempel auf.

Kurz vor seinem Tod segnete Jaakow seine Söhne. Jeder empfing einen Segen, der seiner Persönlichkeit und seiner Spiritualität entsprach. Juda wurde mit Führungsstärke und Kraft gesegnet, Issachar mit Fleiß und Gelehrsamkeit, Sebulun mit kaufmännischem Erfolg und so weiter.

Nachdem Jaakow jeden Sohn einzeln gesegnet hatte, wiederholte er alle Segenssprüche für jeden Sohn. Warum? Was nützte den anderen ein Segen, der nicht auf ihre Ziele und Stärken abgestimmt war?

Jaakow wollte, dass seine Kinder alle Arten der Spiritualität genießen sollten, nicht nur jene, die zu ihrem Charakter passten. Er wollte, dass sie alle Mizwot befolgten, nicht nur jene, die ihnen angenehm waren.

Darum segnete er zuerst jeden Sohn einzeln und legte ihm die Mizwot ans Herz, die seiner Persönlichkeit entsprachen. Danach spendete er allen einen umfassenden Segen, um sie für alle Mizwot zu begeistern, auch für jene, die nicht zu ihrem Naturell passten.

Ein Segen für alle Juden

Die Antwort auf die obige Frage lautet also: Wir können auch den unbequemen Weg gehen. Dass wir heute spirituell unterschiedlich sind, liegt daran, dass jeder der zwölf Söhne Jaakows eine einzigartige Persönlichkeit war. Jaakows Segen, der seinen Söhnen half, ihre Grenzen zu überschreiten und alle Arten der Spiritualität zu genießen, verhilft auch uns zu dieser wundervollen Fähigkeit.

Alle Juden, unabhängig von ihrer Herkunft und Frömmigkeit, sind gleichermaßen Erben des Segens, den Jaakow uns erteilte. Keine Mizwa ist für uns zu schwer.

Ein Kaufmann ist heute dank Jaakows Segen imstande, die Tora mit totaler Hingabe und Konzentration zu studieren. Ein Tora-Gelehrter kann heute, wenn nötig, seine Studien unterbrechen und voller Freude Spenden für einen Guten Zweck sammeln. Jede Mizwa ist für jeden Juden da. Er kann sie nicht nur befolgen, sondern auch genießen.

Wenn wieder einmal jemand zu Ihnen sagt: „Das ist nicht mein Ding“, dann raten Sie ihm oder ihr dringend, es einfach zu probieren. Sagen Sie: „Unser Vorvater Jaakow hat alle Juden gesegnet, auch dich!“