Billionen Menschen haben von den Zehn Geboten gehört und viele können zumindest drei oder vier davon aufzählen. Tatsächlich gibt es wohl einige Millionen, die alle zehn in der richtigen Reihenfolge aufzählen können. Es ist allerdings weniger bekannt, dass diese 10-Punkte-Zusammenfassung der G-ttlichen Mitteilung für die Menschheit in zwei Richtungen gelesen werden kann: Von oben nach unten, oder von einer Seite zur anderen.

Was meine ich damit? Moses erhielt die Zehn Gebote auf zwei Steintafeln – fünf Gebote auf jedem Stein – wie folgt:

1) Ich bin der Herr, dein G-tt ...

2) Du sollst keine anderen Götter neben Mir haben ...

3) Du sollst den Namen G-ttes nicht unnütz führen ...

4) Halte den Schabbat ...

5) Ehre deinen Vater und deine Mutter ...

6) Du sollst nicht töten

7) Du sollst nicht ehebrechen

8) Du sollst nicht stehlen

9) Du sollst kein falsches Zeugnis ablegen

10) Du sollst nichts von deines Nächsten begehren

Warum auf zwei Tafeln? Und warum sind die ersten fünf Gebote auf einem Stein und die zweiten fünf auf dem anderen? Fünf zu fünf scheint eine gleichmäßige Aufteilung zu sein, aber tatsächlich ist dem nicht so, denn die ersten fünf Gebote umfassen insgesamt 146 Worte, während die zweiten fünf Gebote nur 26 Worte beinhalten. Unsere Weisen nennen als einen der Gründe, dass die zweiten fünf Gebote eine Wiederholung der ersten fünf Gebote sind. Deshalb sollen wir beide Tafeln nebeneinander stellen und den Text quer lesen:

1) Ich bin der Herr dein G-tt / Du sollst nicht töten

2) Du sollst keine anderen Götter neben Mir haben / Du sollst nicht ehebrechen

3) Du sollst den Namen G-ttes nicht unnütz führen / Du sollst nicht stehlen

4) Halte den Schabbat / Du sollst kein falsches Zeugnis ablegen

5) Ehre deinen Vater und deine Mutter / Du sollst nichts von deines Nächsten begehren

Das bedeutet, dass es im Grunde genommen nur fünf Gebote gibt. „Du sollst nicht töten“ ist ein anderer Ausdruck für “Ich bin der Herr dein G-tt”; das Verbot des Ehebruchs ist das Verbot des Götzendienstes; den Schabbat zu halten ist gleichbedeutend damit, ein ehrlicher Zeuge zu sein, usw.

Im Midrasch wird der Zusammenhang dieser fünf Gebotspaare erklärt, aber wir wollen uns auf die Verbindung zwischen Gebot 1 und Gebot 6 beschränken. Warum gehören „Du sollst nicht töten“ und „Ich bin der Herr dein G-tt“ zusammen? Weil unsere Weisen uns beibrachten, dass ein Umbringen seines Nächsten dem Umbringen G-ttes gleichzusetzen ist:

Womit ist das zu vergleichen? Wir stellen uns einen menschlichen König vor, der in ein Land kam, dort sein Bild u.a. Statuen von sich aufstellte und außerdem Münzen mit seinem Portrait herstellen ließ. Nach einiger Zeit zerstörten die Menschen dieses Landes des Königs Bilder und Statuen, entwerteten die Münzen mit seinem Portrait, und beeinträchtigten so das Ansehen des Königs. Gleiches trifft auf einen Menschen, der Blut vergießt, zu: Er beeinträchtigt das Ansehen des Königs, wie es in Genesis 9:6 heißt: „Einer, der das Blut eines Mitmenschen vergießt ... denn im Angesicht G-ttes machte Er den Menschen“.

Nun gibt es Mörder, die nach eigner Aussage an G-tt glauben. Und es gibt Menschen, die zwar Mord verabscheuen, aber behaupten, dass sie nicht an eine höhere Macht glauben. Beide haben Unrecht!

Wenn du wirklich an G-tt glaubst, dann kannst du nicht morden. Wenn du aber tatsächlich davon überzeugt bist, das Leben eines Mitmenschen nicht beenden zu dürfen, – und zwar nicht nur, weil du weder die Mittel noch einen Grund dafür hast, und auch nicht aus Angst vor dem Gefängnis, sondern weil du den transzendenten, unantastbaren Wert des Lebens erkennst, – dann glaubst du an G-tt. Du sagst es nur auf andere Art, weil du nicht religiös bist und es deshalb nicht so ausdrückst.